Lipno – Auf der Suche nach "einer Brücke über unruhiges Wasser"

(Petition "Für nachhaltige Entwicklung und Regulierung der Bautätigkeit auf dem Lipno"" hier)


Wer das Lipno-Gebiet besucht, begegnet einer Landschaft, die überrascht. Weite Wasserflächen, sanfte Hügel, dichte Wälder – und mittendrin ein See, der auf den ersten Blick ganz natürlich wirkt. Tatsächlich ist der Lipno-Stausee ein technisches Werk, entstanden in den 1950er-Jahren. Doch seine Größe, seine Lage und seine ruhige Schönheit lassen das schnell vergessen.

Der See liegt fast 730 Meter über dem Meer, eingebettet in das breite Tal der Moldau. Diese fließt hier, nahe der österreichischen Grenze, durch eine stille und offene Landschaft. Über 4.600 Hektar Wasserfläche breiten sich aus, und an klaren Tagen spiegeln sich darin die Gipfel des Böhmerwalds – manche über 1.300 Meter hoch.

Grenzland Lipno – Zwischen Umbruch und Neubeginn

Seit dem 13. Jahrhundert dünn besiedelt, war diese Region nie wohlhabend. Die Bevölkerung hatten bescheidenes Leben, ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit Forstwirtschaft, Holzbearbeitung, Glasherstellung und mühsamer Landwirtschaft, erschwert durch das raue Klima. Die Abgeschiedenheit und schwierige Zugänglichkeit hielten sie lange vom Weltgeschehen fern.

Doch all das änderte sich im 20. Jahrhundert dramatisch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Aus historischen Gründen lebten in diesem böhmisch-österreichischen Grenzgebiet jahrhundertelang deutsch- und tschechischsprachige Menschen nebeneinander – zumindest friedlich, wenn auch nicht immer idyllisch. Mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 fanden sich viele deutschsprachige Bewohner plötzlich in einem neuen Staat wieder, dem sie sich oft nicht zugehörig fühlten. Dieses Gefühl der Entfremdung wuchs über die Jahre – und bot in den 1930er Jahren einen fruchtbaren Boden für nationalistische Ideen. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, die anschließende Annexion der Sudetengebiete und die Vertreibung vieler Tschechen führten schließlich zu einer tiefen Spaltung in der Region.

Der Zweite Weltkrieg machte aus dem einst friedlichen Grenzland ein politisches Spannungsfeld mit schwerwiegenden Folgen. Und auch nach der Befreiung durch amerikanische Truppen im Jahr 1945 kehrte kein Frieden ein. Als Vergeltung für das Leid und die Zerstörung durch Nazi-Deutschland wurde nun die deutschsprachige Bevölkerung zur Ausreise gezwungen – eine Entvölkerung ganzer Grenzregionen war die Folge. Nach dem kommunistischen Umsturz im Jahr 1948 wurde die Region vollends zerstört: Dörfer verfielen oder wurden gesprengt, um eine nahezu hermetisch abgeriegelte und streng bewachte Zone entlang des sogenannten Eisernen Vorhangs zu schaffen, in der nur Grenzposten operierten – oft mit tödlichen Konsequenzen für Flüchtende. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 brachte neue Hoffnung – doch manche Wunden heilen bis heute nicht.

Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der 40-jährigen Isolation eines großen Teils der Region war die Rückkehr unberührter Natur. Während das linke Ufer – wo die ursprünglichen Gemeinden trotz Vertreibung der Deutschen weiter existierten – während des Kommunismus vor allem für Landwirtschaft und Freizeitnutzung mit einfachen Holzhütten und Zeltplätzen diente, entstand am rechten Ufer entlang der Grenze eine einzigartige Wildnis. Wo einst Kulturlandschaft war, konnte sich die Natur in wenigen Jahrzehnten ihren Raum zurückerobern. Schon ein kurzer Blick auf die Karte zeigt eine auffällige Abwesenheit von Siedlungen auf der tschechischen Seite – ein Kontrast zur dicht besiedelten österreichischen Nachbarregion, wie man ihn im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts kaum findet. Diese neue Wildnis ist selbst zu einer Touristenattraktion geworden.

Von der Vertreibung zur touristischen Entwicklung

Auch die Bevölkerungsstruktur hat sich grundlegend verändert. Während die Bewohner vor dem Zweiten Weltkrieg – sowohl deutsch- als auch tschechischsprachig – meist auf eine lange Familiengeschichte in der Region zurückblicken konnten, stammen die heutigen Einwohner zumeist aus anderen Teilen des Landes (oder aus dem Ausland) und kamen in den 1950er bis 1970er Jahren. Ihre emotionale Bindung zur Region ist vielerorts noch im Entstehen. Nach der Vertreibung der Deutschen 1946 wurde das Sudetenland nahezu menschenleer – viele der ersten Neuankömmlinge waren tschechische "Goldgräber", die lediglich kamen, um zurückgelassenen Besitz zu plündern, und bald wieder verschwanden. Fotos aus den 1950er Jahren zeigen ein Maß an Zerstörung, das den Eindruck vermittelt, hier sei eine Frontlinie durchgezogen – obwohl das Gebiet nie unmittelbare Kampfhandlungen erlebte.

Die 1990er Jahre stellten die Region vor neue Herausforderungen. Die wenigen verbliebenen Industriebetriebe – Papierfabrik, Molkerei, Sägewerk – wurden geschlossen, Arbeitsplätze gingen verloren, viele Menschen suchten Jobs in Österreich oder Deutschland – ein Trend, der bis heute anhält. Auch die Landwirtschaft ging stark zurück, Felder wurden nicht mehr bestellt, Milchviehhaltung verschwand.

Der Tourismus schien eine vielversprechende Alternative. Seit den späten 1950er Jahren war er Teil der regionalen Wirtschaft, wenn auch nie der dominierende. Der Freizeitwert des Stausees, die weitgehend unberührte Landschaft und die neue Wildnis sollten neue Arbeitsplätze schaffen und zur Grundlage der regionalen Wirtschaft werden.

Uncontrolled Tourism Boom and its Consequences

Doch die Erwartungen waren zu optimistisch. Bereits in den 1990er Jahren verschlechterte sich die Wasserqualität des Sees drastisch. Die vermehrte Bildung von Blaualgen – durch Phosphor aus unzureichend geklärten Abwässern – führte im Sommer teilweise zu Badeverboten. Neue Kläranlagen und strengere Vorschriften zur Phosphatnutzung in Waschmitteln sorgten für eine vorübergehende Besserung, doch ab 2010 verschärfte sich die Situation erneut – diesmal durch Abwässer neuer Freizeitresorts. Der Klimawandel mit höheren Sommertemperaturen verstärkt das Problem weiter. Diese Entwicklung könnte den Tourismus in der Region langfristig zerstören.

Ein weiterer negativer Trend ist die Umwandlung des individuellen Tourismus in eine Tourismusindustrie. Am linken Seeufer stehen große Freiflächen zur Verfügung – ein Luxus an sich. Doch da der Großteil des Landes nicht mehr staatlich ist, wollen die oft weit entfernt wohnenden Eigentümer maximale Gewinne erzielen: Aus ehemaligem Ackerland werden Bauflächen für riesige, einheitlich gestaltete Ferienanlagen mit Dutzenden oder Hunderten Häusern – an Orten, an denen es nie Siedlungen gab. Rund 30 solcher Projekte sind in Planung, einige bereits realisiert. Sie entstellen die Landschaft dauerhaft und irreversibel. Doch die Erfahrung zeigt: Diese Anlagen bleiben über weite Teile des Jahres leer – Geisterstädte entstehen. Schon jetzt übersteigt die Zahl der Gästebetten die der Einwohner deutlich – und das Ungleichgewicht wird noch größer werden.

          Brücke über das aufgewühlte Wasser

Trotz des massiven touristischen Ausbaus und gegenteiliger Versprechen entstehen kaum neue ganzjährige Arbeitsplätze. Die Zahl der ständigen Einwohner stagniert oder sinkt sogar. Die Einheimischen profitieren kaum – im Gegenteil: Sie verlieren ihr gewohntes Lebensumfeld und damit oft auch den Grund zu bleiben. Viele fürchten, dass der ungezügelte touristische Ausbau die Grundlagen des Tourismus selbst gefährdet – und somit die Zukunft der Region. Schon jetzt meiden manche potenzielle Gäste die Region wegen dieser Entwicklungen.

Und wenn der Tourismus – der den Einheimischen ohnehin nur bedingt nützt – zusammenbricht, wie in den Jahren der Corona-Pandemie, dann trifft es wieder die Menschen vor Ort.

Die Wasser des Lipno sind derzeit unruhig. Wenn diese Region ein Ort zum Leben bleiben soll – und nicht nur für den einwöchigen Urlaub –, dann braucht es dringend eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen. Und es muss schnell gehen. Die Zeit drängt…